Wissenschaftlich betrachtet: Intergenerationelles Lernen

von | Okt. 6, 2025 | Allgemein | 0 Kommentare

Zahlreiche Studien belegen, dass das pädagogische Konzept des intergenerationellen Lernens in allen Bildungsbereichen an Relevanz gewinnt. –  Warum das so ist und welche Konsequenzen sich daraus für die Erwachsenenbildung ergeben, lesen Sie im Bericht von Prof. Dr. Veronika Thalhammer (Vertretung der Professur für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München).

Der Rückgang traditioneller Mehrgenerationenhaushalte, veränderte Familienstrukturen und die Zunahme individualisierter Lebensformen führen vor allem in urbanen Regionen zur Reduzierung von intergenerationellen Begegnungsräumen im Alltag. Individualisierung, berufliche Flexibilität und Mobilität schwächen zudem familiäre Unterstützungsnormen (Thalhammer, 2017 – siehe Literaturverweis). Gleichzeitig gerät durch den demografischen Wandel, die zunehmende Altersarmut und wirtschaftliche Krisen das gesellschaftliche Verantwortungsmodell unter Druck, Unsicherheiten bezüglich des kollektiven Generationenvertrags nehmen zu. Darüber hinaus verstärken Polykrisen (z. B. geopolitische Instabilitäten, Klimawandel, COVID-19 Pandemie) nicht nur existenzielle Zukunftsängste, sondern verschärfen auch intergenerationelle Spannungen (z. B. Kreyßel-Minar, 2025 – siehe Literaturverweis).
Angesichts dieser aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen gewinnt das pädagogische Konzept des intergenerationellen Lernens (Franz, 2010, 2014; Schmidt-Hertha, 2014 – siehe Literaturverweis) in allen Bildungsbereichen an Relevanz, da es einen Rahmen bietet, Alters- und Generationendiversität nicht als Problem, sondern als Lernressource zu begreifen. Erwachsenenbildung kann damit Bildungsräume schaffen, welche alters- und generationenübergreifenden Austausch systematisch anregen und damit einen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten. Bereits das Miteinander-Lernen von Generationen bei generationenverbindenden Themen und gemeinsame Aktivitätsformen fördert den Dialog zwischen den Generationen. Im Fokus steht beim intergenerationellen Lernen oft das Voneinander-Lernen und somit die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen von einer Generation an eine andere: Dabei wird auch häufig versucht, traditionelle Rollenmuster der Wissensweitergabe von Älteren an Jüngere aufzulösen und das Senioritätsprinzip aufzubrechen. Umgedrehte Konstellationen des Voneinander-Lernens bergen jedoch die Gefahr, Vorurteile und Stereotype gegenüber anderen Generationen durch Hierarchisierung und Defizitzuschreibung zu verstärken (z. B. beim „Reverse Mentoring“, wenn Jugendliche älteren Menschen bei der Nutzung von Medien helfen). Entstehen in altersübergreifenden Lerngruppen jedoch wechselseitige Lernprozesse, die unterschiedliche Erfahrungen von Generationen offenlegen und Einblicke in die Lebenswelten anderer Generationen ermöglichen, wird Übereinander-Lernen angeregt. Nur wenn generationenspezifische Weltsichten, Deutungsmuster und Wissensbestände zum Lerngegenstand werden, kann gegenseitige Perspektivübernahme erzielt werden. Gerade die Erwachsenenbildung bietet einen verhältnismäßig offenen Rahmen für Intergenerationelles Lernen, in welchen sich das Potential zur – manchmal auch konflikthaften – Auseinandersetzung mit den Perspektiven anderer Generationen unter professioneller Begleitung entfalten kann.


In der Bildungspraxis ist zu beachten, dass die konflikthaften Differenzlinien zwischen Generationen und Altersgruppen oft von anderen Dimensionen der sozialen Ungleichheit (z. B. Bildungshintergrund, Geschlecht, Milieu, Migrationserfahrung) überlagert werden und der Generationenbegriff sehr unscharf ist, da verschiedene Definitionen nebeneinander bestehen (z. B. genealogisch, pädagogisch, gesellschaftlich-historisch). Wissenschaftliche Studien zeigen immer wieder, dass Generationenbegriffe eine starre Zugehörigkeit suggerieren, die sich empirisch oft nicht nachweisen lässt, da die Kategorie der Generation der biografischen Dynamik und der Individualität von Individuen oft nicht vollständig gerecht wird (Schmidt-Hertha, 2014 – siehe Literaturverweis). Dennoch zeigt die Forschung zu den Motiven zum Intergenerationellen Lernen (Schmidt-Hertha, 2014 – siehe Literaturverweis), dass vor allem bei bildungsaffinen und weiterbildungserfahrenden älteren Erwachsenen die Bereitschaft zum gemeinsamen Lernen mit Jüngeren sehr ausgeprägt ist. Wer im Alltag häufiger Kontakt zu Jüngeren und positive Altersbilder internalisiert hat, zeigt besonders großes Interesse an altersheterogenen Lerngruppen. Die Offenheit für altersgemischte Lerngruppen ist jedoch auch abhängig vom Lerngegenstand und Vorwissen: Sobald digitale Technologien im Zentrum stehen, befürchten v. a. ältere Frauen mit dem Lerntempo der Jüngeren nicht Schritt halten zu können. Auch wenn die Einstellungen und Erwartungen jüngerer Lernender gegenüber dem Intergenerationellen Lernen noch kaum beforscht wurden, verweisen wissenschaftliche Studien (z. B. Kreyßel-Minar, 2025 – siehe Literaturverweis) darauf, dass es über Altersgrenzen, Lebensstile und Wertvorstellungen hinweg nicht an grundsätzlicher Sympathie oder Verständigungsbereitschaft mangelt.
Die Anregung der gleichberechtigten Generationenbegegnung auf Augenhöhe, erfordert jedoch nicht nur die Freiwilligkeit und Offenheit seitens der Lernenden, sondern auch hohe didaktische Fähigkeiten seitens der professionell pädagogisch Handelnden: Die Initiierung, Gestaltung und Begleitung von intergenerationellem Lernen bedarf spezifischer Methoden und die Fähigkeit zum souveränen Umgang mit dem potentiellen Konfliktpotential (Franz, 2014 – siehe Literaturverweise). Aus wissenschaftlicher Perspektive wird daher in diesem Handlungsfeld immer wieder auf den Qualifizierungsbedarf von Erwachsenenbildnerinnen und Erwachsenenbildnern in Aus- und Fortbildung hingewiesen (Franz, 2010 – siehe Literaturverweis). Im Hinblick auf das Intergenerationelle Lernen steht die Praxis der Erwachsenenbildung – auch angesichts des demografischen Wandels – vor der Herausforderung, bildungsferne und schwer erreichbare ältere Erwachsenen stärker einzubeziehen: In diesem Zusammenhang haben sich in der pädagogischen Generationenarbeit trägerübergreifende Kooperationen und sozialraumorientierte Konzepte bewährt, die intergenerationelle Begegnungsräume auch außerhalb der Erwachsenenbildungseinrichtungen erschließen (Gieschen & Thalhammer, 2023 – siehe Literaturverweis). Aus organisationspädagogischer Perspektive ist intergenerationelles Lernen darüber hinaus auch fruchtbar beim anstehenden Generationenwechsel innerhalb der Institutionen der Erwachsenbildung, etwa zur Anregung von generationsübergreifenden Reflexions- und Austauschprozessen im Organisationsentwicklungsprozess (Franz, 2017- siehe Literaturverweis).

Literaturverweise:

Zur weiteren Info

Mehr Infos zu Dr. Veronika Thalhammer – LMU München hier